archaische Plastik: Meisterwerke des 7. und 6. Jahrhunderts

archaische Plastik: Meisterwerke des 7. und 6. Jahrhunderts
archaische Plastik: Meisterwerke des 7. und 6. Jahrhunderts
 
Die Kunst des 7. und 6. Jahrhunderts wird in der neuzeitlichen Forschung als »archaisch« bezeichnet. Archaisch heißt »den Anfang bildend«. Auch wenn die griechische Kunst bereits eine sehr viel ältere Tradition aufweisen kann, markiert das 7. Jahrhundert v. Chr. doch insofern einen Einschnitt, als nun die dichte Folge der aus Stein gearbeiteten großformatigen Bildwerke einsetzt.
 
Den größten Anteil an der Entfaltung des archaischen Stils hatten jene griechischen Siedlungsgebiete, die im Ausstrahlungsbereich der alten Hochkulturen des Orients lagen. Das waren die ostgriechischen Städte an der kleinasiatischen Küste und den vorgelagerten Inseln, aber auch die kulturell stets besonders fruchtbare Insel Kreta. Ein eindrucksvolles Zeugnis der kretischen Kunst der Mitte des 7. Jahrhunderts ist die Figur einer sitzenden weiblichen Gestalt aus dem Bildschmuck des Tempels von Prinias. Das Motiv der thronenden Frau hat seine Vorbilder sowohl in Ägypten wie auch im vorderasiatischen Raum. Die Tracht hingegen ist typisch kretisch. Die hoch über der Stirn aufragende hinten offene Kopfzier, der Polos, ist in dieser Form ein charakteristisches Kennzeichen kretischer Kunst des 7. Jahrhunderts v. Chr., der »dädalischen« Kunst. Das gleiche gilt für das Cape-artige Tuch über den Schultern, die Betonung der Leibesmitte durch eine breite Gürtung und das in Art einer Perücke auf die Schultern fallende Haar.
 
An der Wende vom 7. und 6. Jahrhundert haben sich die Marmorbildhauer in den führenden Zentren der Ägäis (Kykladen, Samos, Thasos) mit Kolossalplastik beschäftigt. Die vielfältigen Anregungen der archaischen Großplastik aus dem Orient sind auch an einem Werk nachvollziehbar, das in der Mitte des 6. Jahrhunderts v. Chr. von einem auf der Insel Samos tätigen Künstler namens Geneleos geschaffen worden ist. Der Stifter des Weihgeschenks an die Göttin Hera hat sich mit seiner ganzen Familie darstellen lassen. Jedes Mitglied der Familie ist seinem Status gemäß charakterisiert. Das Familienoberhaupt lagert rechts auf einem Bodenpolster. In seiner Linken hält er ein Trinkhorn. Er ist als Teilnehmer eines Banketts dargestellt, zu dem nur die führenden Männer einer Stadt zugelassen waren. Als sprechende Formel seines Wohlstandes ist aus dem Orient die Fettleibigkeit übernommen. Die filigrane Gewandwiedergabe ist ein Wesenszug der samischen Bildhauerkunst des 6. Jahrhunderts v. Chr. Das linke Ende der Gruppe nimmt die Mutter ein. Ihren Anspruch, Herrin eines von den Göttern herausgehobenen Hausstandes zu sein, bringt sie mit dem Motiv des Thronens zum Ausdruck. Auch die vier Kinder der Familie sind in standesgemäßen Handlungen begriffen: der Knabe hält eine Flöte in den Händen. Ihm ist die Auszeichnung widerfahren, kultische Handlungen im Heiligtum durch das Spiel der Flöte begleiten zu dürfen. Die drei Schwestern stehen scheinbar gleichförmig nebeneinander. Doch jedes der Mädchen trägt eine andere Frisur und ist dadurch als Individuum gekennzeichnet. Was alle drei verbindet ist das Motiv des Gewandraffens. Diese Geste spielt auf ihre Teilnahme an einer Prozession im Rahmen eines Kultfestes an. Ein solch repräsentativer Auftritt war in der archaischen Zeit ein Privileg der politisch einflussreichen Familien.
 
Das hohe künstlerische Niveau der samischen Bildhauer des 6. Jahrhunderts v. Chr. führt auch die Frauenstatue vor Augen, die ein Mann namens Cheramyes nur wenige Jahre nach der Entstehung des zuvor besprochenen Gruppenbildes der Hera von Samos geweiht hat. Bestechend ist die Feinheit der Fältelung des Gewandes. Der fast zu einer Säule erstarrte, von der natürlichen Körperlichkeit völlig abstrahierte Körper ist die zwangsläufige Folge der Vorstellung, dass ein Mensch nur als würdiger Vertreter seines Standes Beachtung und Bewunderung verdient. Als sichtbare Zeichen solcher standesgemäßen Würde hat die archaische Bildkunst feste Formeln entwickelt. Bei öffentlichen Anlässen, als Teilnehmerinnen von Kultfesten, trugen die Damen kunstvoll drapierte, kostbare Gewänder, und diese mit Anmut zu tragen, war das bevorzugte Motiv der bildenden Kunst zur Kennzeichnung einer Frau aus dem Stand der Aristokratie. Für die Bildhauer der archaischen Epoche bedeutete das Festgelegtsein auf solche Bildformeln natürlich eine Einschränkung ihrer künstlerischen Freiheit. Welche Kreativität bei der Auseinandersetzung mit der menschlichen Gestalt gleichwohl in ihnen loderte, lehrt ein Blick auf die Rückenpartie der gleichen Statue. Hier erscheint unter dem hauchdünnen Stoff ein nahezu realistischer Rückenakt, der sogar die Asymmetrien des Standmotivs berücksichtigt.
 
Wie bei den weiblichen Figuren hat die archaische Kunst auch für die Darstellung der männlichen Gestalt eine eng begrenzte Typologie entwickelt. Das alles beherrschende Motiv ist die Gestalt des aufrecht stehenden Mannes in leichter Schrittstellung und seitlich herabhängenden Armen. Die Entlehung aus der ägyptischen Kunst ist nicht zu verkennen. Messungen haben ergeben, dass tatsächlich auch das Proportionssystem dieser archaischen Männerfiguren (Kuroi) dem ägyptischen Kanon verpflichtet ist.
 
Eines der spätesten Werke im Stil der archaischen Zeit ist der Bildschmuck des im frühen 5. Jahrhundert v. Chr. errichteten Tempels der Aphaia auf der Insel Aigina. Im Heiligtum der Aphaia hatten die führenden Familien der Insel ihr sakrales Zentrum. Aigina, in Sichtweite Athens im Saronischen Golf gelegen, war wirtschaftlich und politisch ein gewichtiger Kontrahent Athens. In Athen kam es im Jahr 510 v. Chr. zu einem politischen Umsturz: der bis dahin tonangebende Einfluss einzelner Familienclans wurde zugunsten des Mitspracherechts aller Bürger gebrochen. Die neue Verfassung des Kleisthenes von 508/507 schuf die Grundlagen der athenischen Demokratie.
 
Auf Aigina aber blieb alles beim alten. Der pompöse Ausbau des aiginetischen Stammesheiligtums kann als selbstbewusste Zurschaustellung der ungebrochenen Macht des alten Systems verstanden werden. Das aristokratische Gesellschaftssystem behauptet sich hier noch bis in die Mitte des 5. Jahrhunderts v. Chr. Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, dass die Auftraggeber des Tempelbaus bei dessen figürlichem Schmuck am althergebrachten Stil festhielten. Der archaische Stil spiegelt die stolze Haltung des aristokratischen Standes. Diesem letzten Aufbäumen der alten Ordnung verdanken wir eine Kunstschöpfung, die uns den archaischen Stil in höchster Vollendung vorführt. Noch einmal entfalten das filigrane Linienspiel der Gewänder, die minutiöse Ausarbeitung des kunstvoll drapierten Haares und das standesgemäße Lächeln, das eine Aura der Unnahbarkeit schafft, ihren bestechenden ästhetischen Reiz.
 
Prof. Dr. Ulrich Sinn
 
 
Charbonneaux, Jean u. a.: Das archaische Griechenland. 620—480 v. Chr. Aus dem Französischen. München 21985.
 Hampe, Roland und Simon, Erika: Tausend Jahre frühgriechische Kunst. 1600—600 v. Chr. München 1980.

Universal-Lexikon. 2012.

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